Category: Nichts

  • Wuwei (無為): Nichthandeln in der Praxis

    In meinem letzten Beitrag ging es um das Nichtstun. Der Zwilling des Nichtstuns ist das Prinzip des Nichthandelns, besser bekannt als Wuwei. Wuwei ist ein Grundprinzip des Daoismus. Doch was bedeutet Wuwei konkret? Auf den Punkt gebracht:

    wu 無 = nicht, ohne

    wei 為 = handeln, machen

    Lieber abwarten und nicht aktionistisch in den Lauf der Dinge eingreifen. Man sollte erst dann handeln, wenn die Zeit dafür günstig ist.

    Es gibt eine Vielzahl an theoretischen Abhandlungen zu Wuwei. Nur wie wendet man das Prinzip in der Praxis an?

    Wir leben in einer Zeit der ewigen To-do-Listen. Diese bestimmen unseren Alltag. Nicht wenige verwechseln dauerhaftes Abarbeiten dieser Listen mit effizienter Arbeit. Viele sind fast stolz darauf, einen Burnout überwunden zu haben, nur um sich in der nächsten Runde noch stärker auszubrennen. Leistungsdruck, Konkurrenz und permanente Verfügbarkeit prägen die Realität vieler Menschen. Was kann man tun, damit es nicht so weit kommt und man die Pakete des Lebens erfolgreich jongliert, ohne sich auszubrennen?

    Dieser Beitrag ist auch ein Kontrapunkt zu der nicht zeitgemäßen Äußerung von Kanzler Merz, dass wir alle „mehr“ arbeiten sollten. In jedem Management-Grundkurs lernt man, dass ein Mehr an Arbeit nicht mit einem Mehr an Produktivität korreliert und schon gar nicht mit einem „Mehr“ an ökonomischem Output. Zu viel Druck lässt Ergebnisse nicht steigen, sondern einbrechen , das zeigt das Yerkes-Dodson-Gesetz bereits seit 1908. Leistungsfähigkeit steigt nur bis zu einem gewissen Stressniveau und fällt danach unweigerlich wieder ab. Es gilt also die richtige Balance zu finden.

    Wann ist ein günstiger Augenblick, das Prinzip des Nichthandelns auszuprobieren? Man stelle sich folgendes Szenario vor: Man weiß nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Wie eine kleine Feuerwehr wird man zum „Alleskümmerer“, möchte es jedem recht machen, und alles scheint aus dem Ruder zu laufen. Ich kenne ehrlich gesagt kaum jemanden, der nicht irgendwann genau in dieser Situation ist. Wir lernen auch nicht wirklich, mit so etwas umzugehen.

    Wu Wei im Kaiserpalast von Peking: Foto: Fraxinus2, Datei ‘Wuwei.jpg’, Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0. Unverändert übernommen von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wuwei.jpg

    Genau an diesem Punkt, idealerweise schon etwas davor, ist es an der Zeit, Wuwei anzuwenden, oder auf Österreichisch: „Darauf zu scheißen“. Wenn alles zu viel wird, gilt es, radikal zurückzuschalten nach dem Prinzip Spot – Stop – Swap (frei nach Jay Shetty, 2020):

    1. Spot: Bemerken, dass ein kritischer Zustand erreicht ist.
    2. Stop: Anhalten, Bestandsaufnahme.
    3. Swap: Ausmisten, konsequent reduzieren und Nichthandeln im Sinne des Wuwei.

    Wenn wir bemerken, jetzt geht bald gar nichts mehr, dann empfehle ich, zu stoppen, anzuhalten, eine Bestandsaufnahme zu machen und danach konsequent auszumisten. Alle dringlichen Handlungen gilt es zu hinterfragen, und alles, was nicht unmittelbar zu unserem tugendhaften Leben beiträgt, das schmeißt über den Haufen und macht NICHTS. Ihr werdet euch wundern, wie schnell man durch das Prinzip des Nichthandelns zu überraschenden Resultaten kommt.

    Man zwingt sich danach, zu priorisieren und nur in den für einen selbst gewichtigsten Feldern zu handeln. Weniger wird fruchtbar. Viel führt zu nichts, wenig zu mehr.

    Der Philosoph Karl Jaspers meinte in seiner Philosophie der Existenz (1938) sinngemäß: Wir machen immer mehr vom Gleichen und das führt in einen Teufelskreis der Routine. Das Rezept ist hier einfach gesagt Loslassen. Er erläutert, dass starres Festhalten an Mustern in „Grenzsituationen“ in eine Sackgasse führt und nur ein inneres „Loslassen“ neue Wege eröffnet.

    Auch Anselm Grün bemerkte in seinem Buch der Lebenskunst (2002): Wir sind mehr als Krisenmanager und Pflichterfüller. Wir haben einen Raum in uns, und diesen gilt es zu entdecken und für unsere Transformation zu nutzen. Grün beschreibt außerdem ein interessantes Phänomen unserer Gegenwart: Viele verbringen immer mehr Zeit damit, etwas anzuwenden, das ihnen vermeintlich Zeit sparen soll. Schon vor Hartmut Rosa beleuchtete Grün das Verhältnis von Mensch und Zeit und formulierte den Satz:

    „Nimm dir die Zeit und nicht das Leben.“

    Wer sich mehr Zeit für sich selbst nimmt, hat mehr Zeit für sich und sein Leben. Phasen der Ruhe sind dafür unabdingbar. Grün unterscheidet zwischen dem Gott Kairos: Der Gott, des guten und günstigen Moments und Chronos dem Gott der messbaren Zeit.

    Wuwei und Nichthandeln sind eine gute „Handlungsanweisung“ genau dafür. Probiert es aus.


    Quellen

    Grün, A. (2002). Buch der Lebenskunst. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder.

    Jaspers, K. (1938): Philosophie der Existenz. Berlin: de Gruyter Shetty, J. (2020). Think Like a Monk: Train Your Mind for Peace and Purpose Every Day. New

    Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

    Yerkes, R. M., & Dodson, J. D. (1908). The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482.